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„Der ‚Osten‘ im ‚Westen‘: Spuren DDR-Geflüchteter im Hamburger Raum

Aktuelle Zugänge zur Erinnerungskultur an die DDR

Die Historikerin Theresa Hertrich koordiniert das Projekt „Orte der (Un-)Sichtbarkeit“ an der Universität Hamburg. Das Projekt ist im Bereich Public History angesiedelt und beschäftigt sich mit der Perspektive auf persönliche Erinnerungsorte ehemaliger Geflüchteter aus der DDR, die in Hamburg wohnhaft geworden sind und in der Stadt ihre eigenen Spuren hinterlassen haben.

Theresa und ihre Kolleg:innen möchten diese „Orte der (Un-)Sichtbarkeit“ dokumentieren und die mit ihnen verbundenen Erinnerungen von Menschen mit Fluchtgeschichte aus der DDR zum Sprechen bringen und im Hamburger Raum sichtbar machen.

Screenshot der Internetseite des Projektes.
 

Das Interview führten Natalia Wollny und Klaas Anders, die im letzten Jahr selbst mit dem Projekt „Ostwärts in den Westen“ eine Ausstellung erarbeiteten, die sich mit vielfältigen Erinnerungen einer ausgewählten Gruppe an Menschen an ihre Flucht aus der DDR im Herbst 1989 über die deutsche Botschaft in Prag beschäftigte und diese als kollektiven Erinnerungsort ihrer Fluchtgeschichte einordnete.

Hallo Theresa, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Wir finden Euer Projekt sehr spannend und freuen uns darauf, mit Dir darüber zu sprechen. Magst du Dich kurz vorstellen und erzählen, wie Du zu dem Projekt gekommen bist?

Vorab erst einmal: Vielen Dank, dass ihr auf mich zugekommen seid und ich ein Interview bei euch geben darf! Ich bin Theresa, Koordinatorin hier im Projekt aus dem Programm „Jugend erinnert“. Die Projektidee entstand Anfang des letzten Jahres initiiert durch die Ausschreibung der Bundesstiftung Aufarbeitung in der Projektförderung „Jugend erinnert“. Wir fanden die Idee wichtig, DDR-Geschichte und die Transformationsprozesse jungen Menschen in einer norddeutschen Stadt näherzubringen und sind dankbar dafür, dass uns die Landeszentrale für politische Bildung von Anfang an dabei unterstützen wollte, dieses Vorhaben in Hamburg umzusetzen.

Zudem habe ich mehrere Jahre in der Gedenkstätte in der „Runden Ecke“ in Leipzig gearbeitet und mich dort intensiv mit der Geschichte, Struktur und Arbeitsweise des Ministeriums für Staatssicherheit auseinandergesetzt. In dem Zuge habe ich sehr oft mit Jugendgruppen zusammengearbeitet. Hierbei war es immer wieder besonders interessant, welche Perspektiven Jugendliche auf die DDR-Geschichte haben und welche Themen für sie von besonderem Interesse sind.

Außerdem habe ich das Glück, mit meinem Kollegen Jan Krawczyk zusammenarbeiten zu können, der wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt ist. Jan hat mit seiner Expertise aus der Didaktik noch einmal einen spezifischen Zugang zu Bildungsfragen. Wir arbeiten bereits seit vielen Jahren zusammen in der historisch-politischen Bildungsarbeit und der Schritt der direkten institutionellen Anbindung stellt für uns noch einmal eine ganz neue Ebene des Zusammenarbeitens dar.

Mit der Kooperation zwischen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg und der Public History der Uni Hamburg bewegen wir uns genau an der Schnittstelle zwischen Forschung und praktischer Bildungsarbeit.

Die Stadt Hamburg ist ein Ort, die auf den ersten Blick und auch historisch gesehen wenig mit der DDR verbunden ist. Wieso habt Ihr dieses Projekt ausgerechnet in der Hansestadt verortet?

Das ist eine spannende Frage, in der bereits schon ein Teil der Antwort steckt. Die erste Reaktion ist ja immer erstmal: Hmm, was hat denn Hamburg mit der DDR zu tun? Und dann führt man erste Telefonate und merkt sehr schnell: Tausende Menschen sind aus der DDR nach Hamburg gekommen und gestalten hier Zusammenleben, Gemeinschaft und Stadtgeschichte mit.

Wir merken bereits in dieser ersten Projektphase, wie viele Biografien von DDR-Flucht/Ausreise nach Hamburg an bestimmten Markern zusammenlaufen, die bis dato unsichtbar waren. Diese Marker reichen von spezifischen „Orten des Müssens“ wie dem Durchgangslager Finkenwerder oder der ehemaligen Ausländerbehörde im Biberhaus, über Organisationen wie die Flüchtlingsstarthilfe e.V. bis hin zu konkreten Personen wie dem Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. In allen Geschichten ist Hamburg der gemeinsame Referenzpunkt.

Kannst Du etwas darüber erzählen, wieso Ihr Oral History als Zugang zu den Erinnerungen der Geflüchteten als Zugang ausgewählt habt? Was erhofft Ihr Euch als Ergebnisse des Projektes?

Oral History ist ein wichtiger Aspekt unseres Projektes. Durch Zeitzeug*inneninterviews wollen wir ihre Geschichten sicht- und auch hörbar machen, denn aus den Interviews entsteht ein Audiowalk zu persönlichen Erinnerungsorten der Interviewten.

Durch den Zugang über Oral History wird der nötige Raum eröffnet, um Zeitzeug*innen sprechen zu lassen – schließlich reden manche Zeitzeug*innen zum ersten Mal überhaupt über ihre Geschichte. So können wir Alltagsgeschichte und Perspektiven in den Vordergrund rücken, denen bisher keine Relevanz zugeschrieben wird.

Auf welche Art und Weise versucht Ihr, Zeitzeug*innen zu finden? Das ist sicherlich kein einfaches Unterfangen? Und inwiefern prägen die unterschiedlichen Fluchtphasen das Wirken der Geflüchteten im öffentlichen Raum?

Mit diesem Gedanken sind wir auch in die Planung gegangen. Dazu haben wir mit dem Schriftsteller und Poetry Slammer Aron Boks zusammengearbeitet, der in einem Videoaufruf aus einer jüngeren Sicht Fragen stellt: Was interessiert Jugendliche an der Geschichte von Menschen, die aus der DDR nach Hamburg gekommen sind? Welche Hamburger Orte verbinden sie mit ihrer eigenen Geschichte? Diesen Aufruf haben wir auf verschiedenen Kanälen wie YouTube und Twitter geteilt. Aber eigentlich erreichten uns dann die meisten Anrufe, seitdem das Hamburger Abendblatt über unser Projekt schrieb. Seitdem stand das Telefon nicht mehr still. Nahezu durch alle Jahrgänge gibt es Menschen, die uns von ihrer Flucht, Ausbürgerung und Ausweisung aus der DDR erzählen wollen. Bisher haben wir über 60 Vorgespräche geführt.

In unserem Projekttitel steckt das Wort „unsichtbar“. Nun wird aus unserer Annahme Gewissheit:  Die meisten Zeitzeug*innen haben noch nie über ihre Geschichte gesprochen. Geschichten von Flucht und (Nicht-)Ankommen, die viele Jahre unsichtbar waren, können nun endlich sichtbar gemacht werden.

Mal überspitzt gefragt: Wieso ist ein derartiges Projekt gerade jetzt aktuell? Wieso startet Ihr jetzt ein Projekt zur Erinnerung an die DDR, ist dieses Thema nicht weitestgehend „auserzählt?

Geschichte ist nie auserzählt. Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an die Geschichte und erhält neue Antworten. Wir merken an unserer Resonanz gerade, dass wir eher mit einem „nie erzählt“ als mit einem „auserzählt“ konfrontiert werden. Es gibt Themen, die seit noch nicht allzu langer Zeit überhaupt erst ins Bewusstsein rücken. Hier seien als Beispiele die Geschichte der Vertragsarbeiter*innen in der DDR genannt und hier auch explizit ihre Erfahrungen von Unrecht in der Transformationszeit oder auch die Perspektive von Ostdeutschen of Color und ihrer teilweise von Gewalt geprägten Erinnerungen an die DDR, die viel mehr in den Vordergrund gerückt oder überhaupt erst erzählt werden müssen. Es braucht mehr diversifizierte Zugänge zur DDR-Geschichte.

Wie würdest Du Euren Zugang zu dem Thema beschreiben, auch im Vergleich zu früheren Projekten, die sich mit der DDR und den Fluchtgeschichten beschäftigt haben? Oder auch: Was ist 2022 anders als 2012 oder 2002?

Ich würde gerne mit dem Offensichtlichen anfangen: dem zeitlichen Abstand. Dieser eröffnet uns aktuell einen Gesprächseinstieg, der vor zehn, zwanzig Jahren nicht möglich gewesen wäre. Wir erhalten viele Rückmeldungen von Menschen, deren Kinder, Nichten, Neffen, Bekannte ihnen aktiv unseren Aufruf gezeigt haben und da der Gedanke entstand, sich bei uns zu melden. Menschen entschließen sich erst jetzt, über ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu berichten.

Die Idee eines Projektes zur DDR-Erinnerung und dann auch noch dezidiert für Jugendliche und in Hamburg ist nicht nur auf die von uns in verschiedenen Kontexten immer wieder festgestellten Leerstellen in Bezug auf DDR-Geschichte zurückzuführen, sondern ergab sich vor allem aus unserer grundsätzlichen Arbeit mit Themen rund um Identitätskonstruktionen und Biografiearbeit. Wenn – überspitzt formuliert – in erster Linie die Verbindungen zur DDR-Geschichte überwiegend nur über Zuschreibungen á la „Jammerossi“ oder „Besserwessi“ geschehen, dann ist für uns die Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte(n) nicht nur eine Frage nach historischer Verortung. Darüber hinaus gehen damit vor allem gegenwärtige Macht- und Identitätsfragen einher. Genau an dieser Stelle sollte unserem Verständnis nach historisch-politische Bildung ansetzen.

Zudem haben sich auch die Narrative verändert. Wir kommen immer mehr von den großen Meistererzählungen, die durchweg ein positives Bild des Prozesses der Wiedervereinigung zeichnen, hin zu einer Darstellung, die Transformationserfahrungen auch auf Grundlage individueller Biografien und deren Kontextualisierung ausdifferenziert und anerkennt. Unser Projekt ist ja auch Teil der „Jugend erinnert“ Förderlinie. Und Jugend erinnert sich an DDR-Geschichte 2022 wieder ganz anders als 2012 oder 2002. Die Fragen ändern sich und die Interessen sind andere und es ist hier unsere Aufgabe, diese Fragen an Geschichte für Jugendliche gut abzubilden.

Wir haben in unserem Ausstellungprojekt immer wieder gemerkt, wie sehr wir in der Konzeption und im direkten Gespräch mit den Zeitzeug*innen mit unserer eigenen Erwartungshaltung konfrontiert wurden und wie diese auch gebrochen wurde. Hattet Ihr in Eurer bisherigen Arbeit Momente erlebt, in denen Eure Annahmen oder Erwartungen zu dem Thema revidiert werden mussten? Und wie geht Ihr mit traumatisierten Erinnerungen der Zeitzeug:innen um?

Wir sind hier auf mehreren Ebenen unterwegs. Ich persönlich merke, dass mir meine Arbeit in der Gedenkstätte in Leipzig vieles erleichtert. Menschen und ihre Schicksale, die die Flucht aus der DDR betreffen, sind mir bekannt. Sicherlich spielt meine eigene Biographie hier auch eine wichtige Rolle. Ich bin geboren und aufgewachsen in der DDR und meine Mutter ist mit mir im Oktober 1989 über Ungarn, Österreich und Hof nach Norddeutschland geflohen.

Was uns sehr wichtig ist: Wir sind transparent im Umgang mit Zeitzeug*innen und versuchen auch deutlich zu machen, was wir nicht leisten können. Wir haben in unserem Projekt einen wissenschaftlichen Blick auf die Geschichten der Zeitzeug:innen, unsere Fragestellungen sind historisch-politisch. Dementsprechend maßen wir uns zum Beispiel nicht an, (re)traumatisierende Erlebnisse aktiv anzusprechen, die wir nicht adäquat auffangen können. Dennoch sind die Zeitzeug*innen so reflektiert und auskunftswillig, dass sie trotzdem mit uns sprechen wollen. Und hier genau kommen wir an den Punkt, der mich persönlich bis dato am meisten überrascht hat: Die Entschlusskraft unserer Zeitzeug*innen und die unglaubliche Reflektiertheit, dass die möglichen Interviews durchaus an vielerlei Stellen sehr emotional werden können und dennoch den Wunsch zu äußern, diesen Weg, auch gemeinsam mit uns,  gehen zu wollen.

Wo steht Ihr gerade in Eurem Projekt? Was sind die nächsten Schritte? Und zu welchen Ergebnissen seid Ihr bislang gekommen?

Wir sind aktuell mitten in einer frühen Phase, in der nach wie vor viele Anfragen kommen. Die kommen nicht nur von Zeitzeug:innen, sondern auch von Menschen, die uns mit Informationen und eigenen Recherchen unterstützen wollen. Fast täglich erreichen uns neuen Quellen und Hinweise – das macht viel Freude.

Daneben sind wir ins Sommersemester mit einem begleitenden Projektseminar gestartet, das auch über das Wintersemester fortgesetzt werden wird. Gemeinsam mit Studierenden der Public History wollen wir uns den Geschichten unserer Zeitzeug:innen nähern, um dann den Audiowalk vorzubereiten, zu gestalten und umzusetzen.

Was ist eigentlich das langfristige Ziel des Projektes und wie sollen die Ergebnisse Eurer Arbeit am Ende präsentiert werden?

Es entstehen der Audiowalk, begleitende Workshops für Jugendliche, Bildungsmaterialien und ein Begleitband. Dies alles mit dem Ziel, Geschichten von Menschen, die aus der DDR nach Hamburg gekommen sind, durch ihre persönlichen Erinnerungsorte sichtbar zu machen. Mit unseren „Orten der (Un-)Sichtbarkeit“ wollen wir für Unrechts-, Diktatur- und Fluchterfahrungen und vor allem das (Nicht-)Ankommen in einer neuen Gesellschaft und damit für Geschichte und ihre Gegenwartsbedeutung sensibilisieren. Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen, die häufig selbst Geschichten von Flucht und (Nicht-)Ankommen erzählen können, ist es uns ein besonderes Anliegen, Verbindungs- aber auch Trennlinien zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft aufzudecken.

Kann man Euer Projekt irgendwie unterstützen?

Wir freuen uns immer über Feedback und Hinweise zu unserem Projekt, das alle Interessierten uns gerne über unsere Website www.orte-der-unsichtbarkeit.de zukommen lassen können. Wir sind zudem sehr an Austausch und Vernetzung interessiert. Ansonsten hier zum Schluss noch einmal die verfrühte Einladung, gerne ab nächstem Jahr unser Material und vor allem den Audiowalk zu nutzen!

Vielen Dank für das Interview und Deine Zeit, Theresa. Euch alles Gute für Euer Projekt!