Am 19.07.1942 wurden 767 Jüdinnen und Juden über den „Hannoverschen Bahnhof“ in Hamburg in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Unter ihnen: Martha Glass und Esther Bauer, geborene Jonas. In den Erinnerungen und Tagebüchern dieser Frauen werden die verschiedenen, verflochtenen sozialen Netzwerke und Hierarchien deutlich, die sich zwischen den deutschen und tschechischen Jüdinnen und Juden in dem Ghetto ergaben.
Martha Glass und ihr Ehemann Hermann wurden zunächst in dem Glauben gelassen, dass sie aufgrund ihres Alters keine Deportation zu befürchten hatten.1Apel, Linde; Bajohr, Frank und Prehn, Ulrich: Die Deportationen vom Hannoverschen Bahnhof 1940-1945. Historischer Verlauf und Spuren der Erinnerung, URL: https://www.hamburg.de/contentblob/201350/057cee11085f22bc2726937d2be6c268/data/lohseplatz-vortrag-apel-bajohr-prehn.pdf. Dennoch wurden sie am 19. Juli 1942 gezwungen, ihre Wohnung in der Abteistraße in Hamburg zu verlassen und sich in der Sammelstätte in der Schanzenstraße einzufinden.2Hermann und Martha Glass wurden im Alter von 78 und 63 Jahren nach Theresienstadt deportiert. Bereits am 19.01.1943 starb Hermann Glass an Folge von Herzschwäche und Unterernährung. Martha Glass führte von 1943-1945 Tagebuch in Theresienstadt. Sie überlebte diese Zeit und reiste 1945 erst nach Berlin, wo sie die Familie ihrer Tochter Edith wiedersehen konnte. Schließlich migrierte Martha Glass 1947 in die USA, wo sie bei ihrer Tochter Ingeborg in New York lebte. Sie starb am 07.04.1959 im Alter von 81 Jahren. Müller-Wesemann, Barbara: Martha Glass. „Jeder Tag in Theresin ist ein Geschenk“, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 31.01.2021, URL: https://juedische-geschichte-online.net/beitrag/jgo:article-270. Auch Esther Jonas3Esther Jonas heiratet nach Kriegsende und nimmt den Namen Ihres Mannes, Werner Bauer, an. In Theresienstadt trägt sie ihren Geburtsnamen Jonas, weshalb dieser hier meist verwendet wird. und ihre Eltern mussten ihre Wohnung im Laufgraben 37 in einem sogenannten Judenhaus verlassen, wo sie nach ihrem zwangsweisen Umzug zuletzt gelebt hatten. Von hier aus ging es zum langen Transport in das Ghetto Theresienstadt (tschechisch Terezín), im sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren.“4Apel, Linde; Bajohr, Frank und Prehn, Ulrich: Die Deportationen vom Hannoverschen Bahnhof 1940-1945. Historischer Verlauf und Spuren der Erinnerung, URL: https://www.hamburg.de/contentblob/201350/057cee11085f22bc2726937d2be6c268/data/lohseplatz-vortrag-apel-bajohr-prehn.pdf. Die achtzehnjährige Esther Jonas lernte direkt nach ihrer Ankunft in Theresienstadt den Tschechen Hanuš Leiner kennen. Sie erinnert sich später lebhaft an diese erste Begegnung:
„Und wie wir also an dieser Küche vorbeigingen sah ich, wie dieser junge Mann mich anguckte. Und als Mädchen weiß man, der kommt mir nach (lacht leicht). Und das hat er auch gemacht. Und natürlich konnte ich nicht mit ihm sprechen, denn wir hatten nicht die gleiche Sprache. Und dann brauchten wir immer jemand anders, der uns das übersetzt hat. Und mit dem war ich dann monatelang befreundet. Ich lernte dann Tschechisch und er hat mir viel geholfen.“5Interview mit Esther Bauer, vom 20.11.1998, Interviewer: Jens Michelsen, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, URL: https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-3.de.v1.
Obwohl sie sich kaum verständigen konnten, entwickelt sich eine amouröse Beziehung zwischen den beiden, die sogar in der Heirat im September 1944 mündete. Die Beziehung ist, folgt man der Historikerin Anna Hájková, eine typische Repräsentation der sozialen Hierarchien und Verflechtungen in Theresienstadt: Laut Hájkóva ist in fast allen interkulturellen Beziehungen, die sich in Theresienstadt beobachten lassen, der Mann Tscheche, während die Frau aus anderen Räumen Europas in das Ghetto deportiert wurde.6Hájková, Anna: The Last Ghetto, Oxford 2020, S 93f. Diese Beziehungen waren ein deutlicher Ausdruck von Machthierarchien. Hájková argumentiert, die tschechischen Männer investierten symbolisches und wirtschaftliches Kapital.
Die „ausländischen“ Frauen hätten wiederum soziales Kapital in Form von „Attraktivität“ und der Bereitschaft, sich in das soziale Feld ihrer Partner einzugliedern, eingebracht. Die Frauen wurden oft als sehr „attraktiv“ oder als besonders „weiblich“ wahrgenommen.
Netzwerke und Privilegien
Esther Jonas passte sich an dieses Umfeld schnell an. Dadurch erlangte sie wiederum „Privilegien“, die älteren Frauen – und auch Männern – so nicht offenstanden. Sie konnte Karten für kulturelle Ereignisse wie Konzerte bekommen und besuchte diese regelmäßig, während ihre Mutter keinerlei Zugang zu diesen Veranstaltungen erhielt.7Ebd. S. 95. Diese Karten bezog sie über den Zimmernachbarn Leiner oder den Musiker Fricek Fleischmann.8Ebd. S. 185.
Leiner ist damit ein Beispiel für die gut vernetzte, dominante, soziale Elite in Theresienstadt: Junge tschechische Männer.9Hájková, Anna: Die fabelhaften Jungs aus Theresienstadt. Junge tschechische Männer als dominante soziale Elite im Theresienstädter Ghetto in: Diekmann, Christoph und Quinkert, Babette (Hg.): Im Ghetto 1939-1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld, Göttingen 2009, S. 116-135, hier: S. 120. Diese Dominanz war tief in der Struktur des Ghettos angelegt: Die ersten Transporte, die in Theresienstadt ankamen, waren die sogenannten Aufbaukommandos. Diese Aufbaukommandos, abgekürzt AK1 und AK2, wurden dafür eingesetzt, die notwendigen Strukturen in dem kleinen Ort Terezín herzustellen. Sie setzen sich größtenteils aus jungen, tschechischen Handwerkern und Ingenieuren zusammen. Zu dem Zeitpunkt, als die ersten „regulären“ Transporte eintrafen, waren die ortskundigen und „starken“ jungen Männer bereits vor Ort und stellten eine Art Bezugspunkt für die Neuankömmlinge dar.10Ebd. S. 120. Das Prestige, das diese Männer genossen, breitete sich zunehmend auf die gesamte demographische Gruppe der tschechischen Männer aus. Diese brachten Netzwerke mit in die Ghettogesellschaft, die schon vor dem Krieg bestanden hatten, und bauten beständig neue auf, weshalb sie indirekten Einfluss in viele Bereiche hatten. Unter ihnen waren beispielsweise viele Köche, wie auch Hanuš Leiner. Die Position eines Kochs war sehr begehrt, da man einen gewissen Einfluss auf die Nahrungsmittelversorgung nehmen konnte.11Ebd. Leiners Bruder war beispielsweise Tischler und konnte auch in dieser Funktion im Ghetto arbeiten, wie sich Esther Bauer erinnert:
„Und sein Bruder war Tischler. An und für sich war er Architekt, aber in Theresienstadt wurde er wieder Tischler. Und hat uns Betten gemacht […]“12Michelsen, Jens: Interview mit Esther Bauer, vom 20.11.1998, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, URL: https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-3.de.v1.
Durch ihre Verbindung zu Leiner und seinen Netzwerken konnte Esther Jonas somit an eine Reihe von Privilegien kommen, die ihr andernfalls nicht offen gestanden hätten. Die Beziehung von Esther Jonas und Hanuš Leiner führte schließlich zu einer improvisierten Hochzeit im September 1944.13Esther Bauer erinnert sich, die Hochzeit sei im Oktober 1944 gewesen, da Leiner jedoch nachweißlich mit dem Transport am 28.09.1944 von Theresienstadt nach Auschwitz gekommen ist und ihre Hochzeit drei Tage zuvor war, ergibt sich als Datum der 26.09.1944. Obwohl Esther Jonas die Hochzeit als Provisorium beschreibt, wurde sie seitens der deutschen Behörden scheinbar anerkannt, da Esther Jonas in Leiners Einlieferungsakte als Ehefrau vermerkt wurde.14[Hans Leiner], [01010602 oS]/[10173420]/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
Kurz nach ihrer Hochzeit wurde Leiner jedoch in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert.15Leiners Transportkarte zu dem Transport von Theresienstadt nach Auschwitz. [Hanuš Leiner], [11422001]/[5056034]/ITS Digital Archive, Arolsen Archives. Nach einem kurzen Aufenthalt dort wurde er erneut deportiert, dieses Mal in das KZ Dachau, das er nicht überlebte.16Interessanterweise wird in der Forschung meist Auschwitz als Todesort Leiners angegeben, es lässt sich anhand der Dokumente, die den Arolsen Archiven vorliegen, jedoch nachvollziehen, dass er nur kurz in Auschwitz war und am 10.10.1944 Ausschwitz mit einem Transport mit Ziel Dachau verlassen hat. Leiner erreichte Dachau am 10. Oktober 1944. Da „man“ ihm in Theresienstadt sagte, sein Transport würde nach Dresden gehen, da dort angeblich ein neues Ghetto aufgebaut werden sollte, meldete sich Esther Jonas freiwillig für den nächsten Transport, um Leiner zu folgen.17In den Erinnerungen von Esther Bauer wird nicht deutlich, woher genau die Information bezüglich Dresdens gekommen war. Sie erkannte schnell, dass ihr Transport nicht nach Dresden, sondern ebenfalls nach Auschwitz ging.18Interview mit Esther Bauer, vom 20.11.1998, Interviewer: Jens Michelsen, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, URL: https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-3.de.v1. Esther Jonas überlebte Auschwitz jedoch und migrierte nach Kriegsende in die USA, wo sie ihren zweiten Ehemann, Werner Bauer kennenlernte.19Althaus, Andrea und Apel, Linde: Erzählte Geschichte – geschichtete Erzählung. Zu den lebensgeschichtlichen Interviews mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bauer, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016, URL: https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-2.de.v1.
Alter und Nationalität
Die Beziehungen zwischen den deutschen und tschechischen Jüdinnen und Juden sind in der Summe als heterogen zu bewerten, eine Partnerschaft wie zwischen Leiner und Jonas war bezogen auf die Gesamtgruppe eher untypisch, wie sich die Hamburger Theresienstadt-Überlebende Käthe Starke-Goldschmidt erinnert:
"Nicht daß [sic] die Spannung zwischen den Tschechen und uns klar ausgesprochen worden wäre. Wir spürten deutlich die Aversion und kannten nicht die Gründe. Niemals wären wir darauf gekommen, daß [sic] man uns, die wir doch selbst Betroffene waren, die Schuld am Regime des dritten Reiches anlastete. Es ergab sich dann auch im täglichen Umgang ein Abbau des Ressentiments zugunsten der Einsicht, daß [sic] wir alle im selben Boot säßen."20Starke, Käthe: Der Führer schenkt den Juden eine Stadt, Berlin 1975, S. 56.
Trotz der Entdeckung der Gemeinsamkeiten, spielte die Nation als Ordnungskategorie eine beträchtliche Rolle in der Gesellschaft des Ghettos.21Hájková, Anna: Mutmaßungen über deutsche Juden: Alte Menschen aus Deutschland im Theresienstädter Ghetto, in: Löw, Andrea (Hg.): Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941 – 1945, München 2013 [Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 106], S.179-198, hier. S. 185. Tschechische Juden (und Jüdinnen, hier aber vornehmlich Männer gemeint) fürchteten bei Ankunft des ersten Transportes aus Berlin im Juni 1942, dass die SS die deutschen Jüdinnen und Juden bevorzugt behandelt würden. Die Stimmung unter den jungen tschechischen Männern war bereits in der Zwischenkriegszeit stark nationalistisch aufgeladen und blieb es auch bis zur Befreiung Theresienstadts.22Ebd. S. 186.
Neben der nationalen Kategorie sorgte auch eine demographische Divergenz für die Konstitution des sozialen und hierarchischen Systems in Theresienstadt: Zwei Drittel der Transporte aus dem ‚Altreich‘ machten Frauen aus der Altergruppe über 60 Jahren aus. Diese Gruppe hatte im Gegensatz zu den jungen, tschechischen Männern eine sehr hohe Sterblichkeitsrate und aufgrund ihrer nur eingeschränkten Arbeitsfähigkeit erhielten sie weniger Zugang zu Nahrungsmitteln und auch zu Privilegien jeder Art.23Ebd. S. 181. Martha Glass, die bei ihrer Ankunft im Ghetto 64 Jahre alt war, hielt am 20. März 1943 dazu in ihrem Tagebuch fest:
„Ich selbst hätte zu gerne eine mir zusagende Arbeit, kann aber in meinem Alter nichts mehr finden. Nur Arbeitende sind hier Menschen, bekommen extra Rationen u.s.w. [sic], Bäder. Alle alten Leute sind überflüssig & sollen verrecken.“24Tagebuch-Eintrag vom 20.03.1943, in: Martha Glass: Theresienstädter Tagebücher 1943-1945, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, URL: https://juedische-geschichte-online.net/quelle/jgo:source-217.
Martha Glass hatte sehr mit ihrer schlechten Versorgung zu kämpfen, magerte in Theresienstadt stark ab und hatte mehrfach mit entkräftungsbedingten Ohnmachtsanfällen zu kämpfen. In ihrem Tagebuch dokumentiert sie eindrucksvoll Hunger, Krankheiten etc. Eine große Bedeutung hatten die Pakete ihrer Tochter, die in sogenannter „Mischehe“ in Berlin lebte. Sie war in einer Baracke mit bis zu zehn anderen Frauen in einem Zimmer untergebracht. Esther Bauer wiederum betonte, dass sie durch ihre Verbindung zu Leiner Zugang zu besseren Betten und Zimmern hatte, die ihm durch seine Netzwerke offenstanden. Obwohl Martha Glass und Esther Jonas mit demselben Transport aus derselben Stadt Theresienstadt erreichten, erlebten sie das Ghetto sehr unterschiedlich. Während Esther Jonas das Kriegsende im KZ Mauthausen erlebte, befand sich Martha Glass noch in Theresienstadt. Sie schrieb am 5. Mai 1945 über die Befreiung:
„[Die Tschechen] machen heute größere Umzüge durch die Stadt mit Flaggen der Landesfarben, rot, blau, weiß. Die Begeisterung kennt keine Grenzen. Wir armen deutschen Juden sind sehr im Hintertreffen & wissen vorläufig nicht, wann & wohin. [...] Die Hochstimmung der Tschechen kennt keine Grenzen. Sie fahren in Rudeln heim. Auf dem Marktplatz ist ein Radiowagen & die Jugend tanzt nach tschechischer Musik.“25Tagebuch-Eintrag vom 05.05.1945, in: Ebd.
Hier zeigt sie die Entfremdung der verschiedenen Gruppen in Theresienstadt anhand von nationaler, aber auch demographischer Zugehörigkeit sehr deutlich. Ein Muster, das auch zum Zeitpunkt der Befreiung immer noch mitschwang.26Die Recherchen zu diesem Text fanden statt in Rahmen eines Praktikums des Autoren im Team des denk.mal Hannoverscher Bahnhof. Vielen Dank an dieser Stelle besonders an Dr. Kristina Vagt und das gesamte Projektteam.
Klaas Anders ist Redakteur bei Hamburgische Geschichten. Er hat in Bremen, Hamburg und Prag Geschichte und Osteuropastudien studiert. Er interessiert sich besonders für die Geschichte des Postsozialismus sowie für Erinnerungs- und Gedächtnistheorie. Gegenwärtig ist Klaas Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg 2686: »Contradiction Studies« an der Universität Bremen.
Fußnoten