Gab es im Spätmittelalter einen „Gegensatz“ zwischen der Hanse und Dänemark? War Dänemark damals gar eine Kolonie der Hanse? Während manche Historiker*innen eine Ausplünderung Dänemarks durch die Hanse als gegeben sehen, betonen andere gerade die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Hanse und Dänemark und sehen daher keinen „Gegensatz“. Unsere Autorin gibt einen Überblick über die kontroverse Forschung zu dieser Frage.
In seinem 1967 erschienenen Buch über die Geschichte Kopenhagens schrieb der dänische Historiker Svend Cedergreen Bech (1920–2007), dass das Verhältnis der Hanse zu Dänemark das einer „Kolonialmacht“ zu ihrem „Protektorat“ war.1Svend Cedergreen Bech: Københavns Historie gennem 800 år, Kopenhagen 1967, S. 43, zitiert nach Kilian Baur: Freunde und Feinde. Niederdeutsche, Dänen und die Hanse im Spätmittelalter (1376–1513), Wien, Köln und Weimar 2018, S. 11 [Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Neue Folge Band 76]. Wie sahen die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Hanse und Dänemark aus? Der dänische Historiker Carl Ferdinand Allen (1811–1871) beschrieb diese Wirtschaftsbeziehung in seinem geschichtlichen Handbuch von 1863 (das bis 1900 Lehrbuch an der Universität Kopenhagen war) so:
„Trotz der günstigen Lage Dänemarks gab es kaum [dänische] Handelsschiffe und Händler, denn die fremden Hansestädte ernteten alles. (…) Obwohl das Land eine Menge Produkte hervorbrachte, die sich veredeln ließen, gab es keine Fabriken (…), denn die Deutschen führten fast alle Waren fertig ein. Getreide wurde in Dänemark aufgekauft und als Mehl wieder eingeführt; dänisches Bier, mit Würze gebraut (…) musste dem starken deutschen Bier (…) weichen. Selbst die alltäglichsten und einfachsten Gegenstände (…) wurden aus Deutschland eingeführt.“2Carl Ferdinand Allen: Haandbog i Faedrelandets Historie. Kopenhagen, 6. Auflage 1863, S. 177-178, zitiert nach Svend Aage Karup: Räuber oder Vorbild? Die Hanse aus dänischer Sicht, in: Praxis Geschichte (Hanse und Handel), 14, 1 (2001), S. 37.
Allen meinte, dass Dänemark „in die Gewalt von fremden, räuberischen Kaufleuten geraten war“ und „ausgeraubt wurde und verarmte“: Die Hanse sei eine „für Dänemark verderbliche und böse Macht“ gewesen; durch die „verderbliche Herrschaft der Hansestädte“ habe „das dänische Bürgertum im Mittelalter“ nur eine „unbedeutende Rolle im Lande“ spielen können.3Allen, ebd.
Angenommen, Allen hätte die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Hanse und Dänemark treffend beschrieben – dass also etwa Getreide in Dänemark aufgekauft und als Mehl wieder eingeführt wurde –, wäre dann die Hanse als Kolonialmacht gegenüber Dänemark aufgetreten? Oder ist Kolonialismus nur ein neuzeitliches Phänomen – lässt sich also gar nicht von einem Kolonialismus der Hanse sprechen, da wir es mit Vorgängen im Mittelalter zu tun haben? Nach Irmgard Kirchner wird der „Begriff Kolonialismus (…) meist mit der Neuzeit verbunden“; der „Beginn des neuzeitlichen europäischen Kolonialismus“ sei „mit der Herausbildung einer europäisch dominierten Weltwirtschaft (…) im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert anzusetzen“. Kirchner schreibt weiter: „Im Zuge des neuzeitlichen Kolonialismus sicherte sich Europa nahezu unbegrenzten Zugriff auf Territorien, natürliche Ressourcen und menschliche Arbeitskraft anderer Kontinente (…).“4Irmgard Kirchner: Kolonialismus, in: Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, Andre Gingrich (Hg.): Lexikon der Globalisierung, Bielefeld 2011, S. 183. Indem Kirchner wiederholt von einem „neuzeitlichen Kolonialismus“ spricht, gibt sie zu erkennen, dass es auch einen vor-neuzeitlichen Kolonialismus gibt, zumal – wie Kirchner sagt – der Begriff Kolonialismus in Fachwelt und Öffentlichkeit zwar „meist“ – aber doch nicht immer – mit der Neuzeit verbunden wird. Auch bei mittelalterlichen Geschehnissen lässt sich also von Kolonialismus sprechen.
Was sind die Merkmale des wirtschaftlichen Kolonialismus nach Kirchner? Ein Merkmal sei, dass die Wirtschaft der Kolonie „auf den Export von Rohstoffen und den Anbau von kommerziellen Agrarprodukten (…) wie Kakao, Kaffee oder Zucker etc. ausgerichtet“ sei. Die „errichteten Infrastrukturen“, etwa „ein Hafen“, dienten „in erster Linie“ dem Export; „landfremde Herrschaftsträger“ hätten „die Kontrolle des Außenhandels“ übernommen.5Kirchner, S. 184.
War also die dänische Wirtschaft nach diesen Kriterien eine Kolonie der Hanse? Allen argumentiert, dass aus Dänemark nur Agrarprodukte wie Getreide exportiert wurden, es kaum dänische Handelsschiffe gegeben habe und daher hanseatische Händler*innen den Außenhandel beherrschten. Treffen Allens Aussagen in ihrer Deutlichkeit zu, dann war Dänemark im Mittelalter durchaus eine wirtschaftliche Kolonie der Hanse.
Kilian Baur dagegen stellt in seinem Buch „Freunde und Feinde. Niederdeutsche, Dänen und die Hanse im Spätmittelalter“, die These auf, dass es „wirtschaftliche und gesellschaftliche Verbindungen zwischen Dänemark und dem Hanseraum“ gegeben habe, die aber bei der „Beurteilung“ von Hanse und Dänemark als „Erzfeinde“ vernachlässigt worden seien. Statt diese wirtschaftlichen Verbindungen zu thematisieren, hätten „seit eh und je“ nur angespannte „politische Verhältnisse, Seeraub und Krieg (…) im Vordergrund“ gestanden. Baur beklagt „die Folgen eines Geschichtsbildes, das maßgeblich in der nationalstaatlich orientierten Geschichtsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts verwurzelt ist“. Seine Arbeit – so Baur – habe daher „das Ziel eines Gegenentwurfs zum vorherrschenden Bild vom hansisch-dänischen Gegensatz“. Baur will also die „Meistererzählung“, „die vorherrschende Darstellung Dänemarks im Kontext hanseatischer Geschichte“ hinterfragen.6Kilian Baur: Freunde und Feinde. Niederdeutsche, Dänen und die Hanse im Spätmittelalter (1376–1513), Wien Köln Weimar 2018, S. 12 [Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, Neue Folge Band 76].
Auf welche wirtschaftlichen „Verbindungen“ zwischen Dänemark und der Hanse kann Baur verweisen? Baur meint, dass der dänische Historiker Christian Erslev (1852–1930) „ein relativ sachliches Bild von der hansischen Interessenspolitik“ gezeichnet habe; er habe ihr „sogar Positives abgewinnen“ können.7Baur, S. 23. Zwar – so schrieb Erslev 1898– sei der Handel „in den Händen der fremden Kaufleute“ gewesen, aber „langfristig“ habe sich „auch der dänische Handel“ erhöht und die dänischen Städte seien „aufgeblüht“; Dänemark sei „mit den wichtigsten Ländern Europas in Verbindung“ getreten.8Kristian Erslev: Valdemarenes Storhedstid. Kopenhagen 1898, S. 237-238, zitiert nach Svend Aage Karup: Räuber oder Vorbild? Die Hanse aus dänischer Sicht, in: Praxis Geschichte (Hanse und Handel), 14, 1 (2001), S. 37. Und der dänische Historiker Erik Arup (1876–1951) gab 1925 folgendes Beispiel für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Hanse und Dänemark, bei dem er auf die Märkte in der Provinz Schonen verwies, die damals zu Dänemark gehörte:
„Um 1360 wurde der Markt in Schonen, Skanör und Falsterbo zwischen dem 15.8. und 9.11. abgehalten. Die Kaufleute der Hanse kamen mit Salz und Tonnen, um Heringe aufzukaufen und einzusalzen. Man kann ausrechnen, dass Lübeck jährlich 200 Schiffe schickte, die mit ca. 40000 Tonnen nach Hause fuhren. (…) Rostock, Wismar, Stralsund, Stettin, Greifswald, Kolberg und die preußischen Städte verfrachteten mehr als 60000 Tonnen.“9Erik Arup: Danmarks Historie, Kopenhagen 1925, S. 142-143, zitiert nach Svend Aage Karup: Räuber oder Vorbild? Die Hanse aus dänischer Sicht, in: Praxis Geschichte (Hanse und Handel), 14, 1 (2001), S. 37.
Zwar erwähnte Arup Hamburg nicht als Abnehmer der Heringe. G. Arnold Kiesselbach (1873–1965) berichtete aber 1907, dass Schonen schon im 13. Jahrhundert „ein Ziel auch der Hamburger Seefahrer“ war. „Durch ihre Lage begünstigt“ hätten insbesondere die Städte der Ostsee, und hier vor allem Lübeck, mit den Heringen gehandelt; aber auch Hamburg habe sich daran beteiligt. Ein wichtiges Ziel der Hamburger Schiffe war Brügge; das Hamburger Schiffsrecht erwähnte aber neben Flandern auch England als Ziel der Hamburger Heringsschiffe. Nach Hamburg selbst sei der Hering aus Schonen „freilich (…) selten“ geliefert worden, meinte Kiesselbach: Das Elbgebiet sei schon von den Ostseestädten versorgt worden.10G. Arnold Kiesselbach: Die wirtschaftlichen Grundlagen der deutschen Hanse und die Handelsstellung Hamburgs bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, Berlin 1907.
Arup argeumtiert, dass die hanseatischen Kaufleute – also auch die aus Hamburg – beim Heringshandel mit dem dänischen Gesetz in Konflikt gerieten:
„Selbstverständlich verlangten die deutschen Kaufleute und Handwerker völlige Handelsfreiheit und Rechtssicherheit (Exterritorialrechte) an diesen großen Umschlagplätzen, die sie selbst aufgebaut hatten (…) aber das ‚Motbok‘ [Gesetzbuch] des dänischen Königs (…) entsprach diesen Forderungen nicht.“11Arup: Danmarks Historie, zitiert nach Karup: Räuber oder Vorbild?, in: Praxis Geschichte, 14, 1 (2001).
Aber war es wirklich so „selbstverständlich“, dass hanseatische Kaufleute in Dänemark „Exterritorialrechte“ forderten, also nicht anerkennen wollten, dass sie sich im Ausland befanden? Wieviel zahlten die Lübecker den Fischern für eine Tonne Hering? Wenn 40000 Tonnen Hering an einem Standort in drei Monaten allein nach Lübeck verkauft wurden, hatten die Menschen in den dortigen dänischen Fischerorten und in ihrer Umgebung dann überhaupt noch genug Fisch zu essen?
Der dänische Historiker Svend Aage Karup sagte 2001 in seinem Aufsatz „Räuber oder Vorbild? Die Hanse aus dänischer Sicht“, Allen (der die Hanse als für Dänemark „böse Macht“ bezeichnete) habe die Hanse und ihren Einfluss auf Dänemark „sehr negativ“ bewertet; er habe „die nationale Perspektive“ betont.12Svend Aage Karup: Räuber oder Vorbild? Die Hanse aus dänischer Sicht, in: Praxis Geschichte (Hanse und Handel), 14, 1 (2001), S. 37. Allerdings bedarf es gerade einer „nationalen Perspektive“, um Kolonialismus zu erkennen. Es mag sein, dass der Handel der Hanseaten mit der Zeit auch den dänischen Handel anregte, wie Erslev betont. Aber Allens Vorwurf, hanseatische Kaufleute hätten Dänemark quasi „ausgeraubt“, klingt – auch angesichts von Arups Bericht über den Heringsmarkt in Schonen – glaubhaft. Baur berichtet, dass 1980 eine „Neue Hanse“ gegründet wurde, um die Zusammenarbeit zwischen den Städten im Nord-Ostseeraum zu verbessern; allerdings sei „bis heute“ keine dänische Stadt beigetreten.13Baur: Freunde und Feinde, S. 11. Wie sollte sich auch eine dänische Stadt zur mittelalterlichen Hanse bekennen, die – so Bech – Dänemarks „Kolonialmacht“ gewesen war?
Armin Hemberger (1934-2018) bemerkte 2001, das Thema Hanse sei „mit der Vorstellung einer Germanisierung des Ostseeraums“ verbunden; gerade deshalb müssten die „außerdeutschen Perspektiven“ – eben auch aus Dänemark – berücksichtigt werden.14Armin Hemberger: Hanse und Handel: Facetten, nichts als Facetten, in: Praxis Geschichte (Hanse und Handel), 14, 1 (2001), S. 4.
Soonim Shin hat Germanistik in Daegu und Soziale Arbeit in Mainz studiert sowie ein Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie und Philosophie, ebenfalls in Mainz, mit dem Magistra Artium abgeschlossen. Sie ist staatlich anerkannte Sozialarbeiterin und war Betreuerin in einem Sozialzentrum in Salzburg. Zurzeit ist sie Psychologische Beraterin in Wien.
Fußnoten