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Interview: Transnationale Geschichte, (Post)Kolonialismus und die Esperantobewegung

Lässt sich (post-)koloniale Geschichte überhaupt außerhalb von einem transnationalen Ansatz denken? Für Hamburgische Geschichten haben wir mit Dr. Bernhard Struck über transnationale Geschichte, (Post-)Kolonialismus und seine Forschungsgebiete gesprochen.

Dr. Bernhard Struck ist Reader/Associate Professor in Modern European History an der Universität St. Andrews (UK). Promoviert hat er an der Technischen Universität Berlin und der Université Sorbonne mit einer Arbeit zu „Nicht West – nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender, 1750-1850”. Struck war Gründungsdirektor des Institute for Transnational & Spatial History in St. Andrews. Er forscht zu historischer Reiseforschung, Raumkonzepten, Wissenschaftsgeschichte und zu vergleichender und transnationaler Geschichte. Seit 2019 leitet er das Projekt „Esperanto and Internationalism, c. 1880s-1920s“.   

Karte der Deutschen Kolonien, Deutsches Neuguinea, 1899.
 

Herr Struck, Sie haben in Kiel, Berlin und Lyon studiert, in Paris und Berlin promoviert, Sie sind Gründungsdirektor am „Institute for Transnational & Spatial History“ in St. Andrews und zur Zeit für einen Lehrauftrag an der Karls Universität in Prag. Es drängt sich die Frage auf: Ist Ihr Lebenslauf Folge Ihres Arbeitsschwerpunktes oder resultiert der Schwerpunkt aus Ihren eigenen „transnationalen“ Erfahrungen?

Das ist eine schöne Einstiegsfrage. Huhn oder Ei? Ei oder Huhn? Entweder Oder. Als Hamburger Junge, aufgewachsen im Hamburger Hinterland bei Norderstedt, würde ich mit den Hamburger Jungs von „Fettes Brot“ antworten „Jein“. Ich würde es bei 40-60 einschätzen. Ich tue mich immer etwas schwer mit dem Konzept von Lebenslauf, wenn man solche Stationen auflistet und dann zurückblickt. Die früheren Stationen wie Lyon als Erasmus Student hatten vor allem mit meiner Faszination für die Geschichte Frankreichs, zur Aufklärung, zur Französischen Revolution zu tun. Da war zunächst wenig transnational an sich, auch war das noch nicht die „Konjunktur“ in den späten 1990er Jahren. In jüngster Zeit mit dem Gastaufenthalt an der Karlsuniversität, ja da hat der Lebenslauf tatsächlich mit neuen Arbeitsschwerpunkten wie zur Esperantobewegung in Europa im frühen 20. Jahrhundert zu tun. Das hat mich sehr unerwartet die letzten zwei Jahre öfter nach Prag und Böhmen gebracht.

Was wir aus dem Einblick in unterschiedliche nationale und institutionelle Kontexte lernen können, ist sicherlich, unsere eigenen Annahmen, Parameter, historiographischen Referenzpunkte zu hinterfragen. Das ist in gewisser Weise verunsichernd. Aber in einer guten Weise, wie ich finde. In Kiel und Lyon wird anders studiert und gearbeitet. In Berlin und an der Sorbonne wird in Seminaren anders diskutiert, sprachlich, inhaltlich, konzeptionell.

Ganz, ganz entscheidend und prägend für mich war aber meine Zeit in Berlin, vor allem als Doktorand und später Mitarbeiter am ehemaligen „Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas“. Das wurde seinerzeit von Historikern wie Jürgen Kocka, Hartmut Kaelble, Wolfgang Hildermeier, Holm Sundhaussen und zeitweise von Etienne François geführt. Das waren und sind nicht nur prägende Historiker, sondern für mich prägende Persönlichkeiten. Sie haben mich und andere immer durch ihre fordernde Neugier, Europa breit, vergleichend und später auch zunehmend aus transnationaler Perspektive zu denken,geprägt. Das war sicherlich die wichtigste Zeit und ein Glücksfall. Umso überraschter war ich bei meinem Start in St. Andrews 2007, dass es dort ähnliche Perspektiven und Methoden vom Vergleich zu transnationaler Geschichte eigentlich gar nicht gab. Insofern ist das „Institute for Transnational & Spatial History“ Teil meiner eigenen, kleinen Transferleistung.

Bei „Hamburgische Geschichte“ beschäftigen wir uns für unser Projekt „Hamburgs (Post-)koloniales Erbe“ damit, wie wir besonders aus einer studentischen Perspektive diesem Thema gerecht werden können. An den meisten Universitäten fällt (post-)koloniale Geschichte unter Arbeitsbereiche wie „Global History“ oder „Transnational History“. Lässt sich (post-)koloniale Geschichte überhaupt außerhalb von einem transnationalen Ansatz denken?

Mit meinen Schwerpunkten eher in Kontinentaleuropa im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bin ich sicher kein Fachmann für Kolonialismus und postkoloniale Perspektiven. Wenn wir auf die Genealogie dessen zurückschauen, was heute unter „Global History“ und „Transnational History“ fungiert, gehören (post)koloniale Ansätze und Fragen sicherlich zu den Ausgangspunkten der heutigen Globalgeschichte. In Europa war es eher der historische Vergleich und später die produktive Kritik und Erweiterung durch „kulturelle Transfers“ angeregt durch Kollegen wie Michael Werner, Michel Espagne oder Matthias Middell. In den USA ist es sicher die Erweiterung der Internationalen Geschichte hin zur Inklusion von kulturellen Faktoren und nicht-staatlichen Akteuren. Und dann gehört sicher die Wende von eher traditioneller Imperiengeschichte hin zur „new imperial history“ und postkolonialen Ansätzen zur heutigen Globalgeschichte. Insofern wäre meine Antwort: postkoloniale Geschichte kann eigentlich nicht ohne einen transnationalen Ansatz gedacht werden. Und es ist ebenso faszinierend zu sehen, dass das Transnationale wiederum das Postkoloniale zum Wandern gebracht hat, wie z.B. Arbeiten und Projekte zur „postkolonialen Schweiz“. Auch auf die Gefahr hin ein Aber einzustreuen. Gerade mit dem Blick aus und auf Großbritannien und seine imperiale Geschichte bleibt sicher noch viel zu tun. Zwar haben transnationale Perspektiven und postkoloniale Ansätze natürlich auch hier neue Fragen aufgeworfen, dennoch bleiben viele Projekte nach wie vor recht strikt auf das britische Empire gerichtet.

In unserem Projekt beschäftigen wir uns mit der kolonialen Vergangenheit der Stadt Hamburg. Einer europäischen Metropole, die wie viele Handelsstädte stark vom Kolonialismus profitiert hat. Suchen wir nach den Spuren dieser Zeit um uns herum, suchen wir vor allem in Städten, daher die Frage: Wie sehr ist die Geschichte des Kolonialismus oder auch die Geschichte der Versklavung eine urbane Geschichte?

Was Sie ansprechen ist natürlich eine urbane Geschichte und vor allem eine maritime Geschichte und eine von Hafenstädten. Von Liverpool, über Glasgow, Cádiz, nach Hamburg oder Kopenhagen, um nur einige zu nennen. Aber wir müssen unseren transnationalen Horizont weiter strecken als nur urbane Räume in den Blick zu nehmen, um mit Pierre-Yves Saunier zu sprechen, der das Feld in seiner Einleitung zur „Transnational History“ sehr, sehr gut umreißt. Ich denke hier aber auch an andere, jüngere Beiträge. Zum Beispiel den Band „Slavery Hinterland“ 2016 herausgegeben von Felix Brahm und Eve Rosenhaft. Das Buch zeigt verblüffende und bis vor kurzem wenig beachtete Akteure und Regionen von Wuppertal nach Basel oder Schlesien, die direkt oder indirekt vom Sklavenhandel und Kolonialismus profitierten. Wenn Sie Hamburg und Kolonialismus ansprechen, ist vor allem von Handel und Handelshäusern die Rede, also wirtschaftliche Aspekte. Aber Kolonialismus lässt sich weiter fassen. Wo wurden die Mediziner*innen ausgebildet, die auf jedem transatlantischen Sklaventransport präsent waren? Über eine explizit transnationale, transmaritime oder auch translokale Perspektive lässt sich das Projekt Kolonialismus weit über den Rahmen von Handelstädten rekonstruieren.

Ihr Forschungsschwerpunkt liegt weniger auf (post)kolonialer Geschichte, als mehr auf zentraleuropäischer Geschichte des 19. Jahrhunderts. Liegen diese Themen so weit auseinander, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag oder finden sich in Ihrer Arbeit auch Aspekte des Postkolonialen?

Natürlich haben Polen, Böhmen, Schlesien oder Ungarn auf den ersten Blick nichts oder wenig mit den kolonialen Welten oder postkolonialen Fragen zu tun. Aber in gewisser Weise habe ich es oben mit dem Verweis auf „Slavery Hinterland“ bereits angedeutet. Gerade für das 18. und 19. Jahrhundert tut sich zur Zeit viel, was bislang unbeachtete Verbindungen zwischen Zentraleuropa und Westeuropa mit Hinblick auf Sklaverei, Kolonialismus und Imperien angeht. Derartige Forschungen werden eine Hinterfragung oder Reorietierung von „triangular trade“ oder „Atlantic Slavery“ nach sich ziehen. Das müssen nicht nur direkte Handelsbeziehungen sein wie in der schlesischen Textilherstellung. Ich könnte mir auch vorstellen, dass mehr dazu gearbeitet wird, wie Debatten zur Abschaffung der Sklaverei in Zentral- oder Ostmitteleuropa der Zeit diskutiert wurden, als es um Reformen oder Abschaffung von Leibeigenschaft ging. Immerhin sind es zeitlich parallele Strukturveränderungen. Im Kontext des frühen 20. Jahrhunderts und den neuen Nationalstaaten in der Region nach 1918 fragten kürzlich Katherine Lebow, Małgorzata Mazurek und Joanna Wawrzyniak (Contemporary European History, 2019) in einem sehr anregenden Beitrag, inwieweit Wissen und Wissenszirkulation wichtig waren für diese Staaten. Wissen, vor allem sozialwissenschaftliches und gesellschaftlich relevantes Wissen, das aus alten imperialen Wissensnetzwerken und Wissenskontexten nun für neue nationale Wissenschaftskontexte umgearbeitet oder umfunktionalisiert wurde. Dabei wird auch thematisiert, ob die neuen Staaten der Zwischenkriegszeit in Europa möglicherweise Modelle für andere Dekolonialisierungsprozesse und Unabhängigkeitsbewegungen wichtig oder gar Vorbild waren.

In einem kürzlich erschienen Beitrag fragen Sie: „Did Prussia have an Atlantic history?“ Wieder eine Frage, die man instinktiv erst mal mit „Nein“ beantworten würde. Denken wir an deutsche oder vielmehr preußische Ambitionen in der Welt, denken wir an deutsche Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent im späten 19. Jahrhundert, nicht in dem Zeitraum (von 1760-1780) und der Region, den Sie betrachten. Kurz gefragt: Müssen wir das Bild der „deutschen“ Ambitionen in der Welt erweitern?

Schöner Titel, einer meiner besseren, da bin ich heute noch stolz drauf! Natürlich denken wir zuerst an das späte 19. Jahrhundert und Afrika. Aber es gibt eine Reihe exzellenter Arbeiten, hier denke ich vor allem an Susan Zantop und die deutschen Kolonialphantasien des 18. und 19. Jahrhunderts. „Deutsche Ambitionen“ in der Welt, wie Sie sagen, waren sicher weitreichender und vielschichtiger als von Alexander von Humboldt bis hin zu den Geographen in Afrika, denen Iris Schröder nachgegangen ist. Wenn Kolonien vor allem territoriale Expansion bedeutet, wo auf einem Territorium gearbeitet und gewirtschaftet wird, dann ist das deutsch-polnische 19. Jahrhundert (nach den Teilungen) sicher eine Periode und eine Region, zu der noch viel zu forschen wäre. Aus deutscher Sicht ist die Zeit wenig präsent. Es ist sehr vom Zweiten Weltkrieg überlagert. In Polen ist das anders. Es gibt ein paar anregende Arbeiten von Philipp Ther oder Kristin Kopp zu Polen aus deutscher „kolonialer Perspektive“. Allerdings gibt es bislang sehr wenig dazu, ob die Teilungen Polen-Litauens nach 1772 in ein größeres globales Bild passen. Aber auch anderen Regionen und Epochen wie das kurzlebige Mexikanische Kaiserreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts geben noch Spielraum, um über deutsche oder preußische Ambitionen in der Welt nachzudenken.

Reisen, besonders im 18. oder 19. Jahrhundert war ein Privileg, das nur einem bestimmten Teil der Gesellschaft offenstand. Wie sehr ist dieses Projekt zur preußischen Atlantik-Geschichte aber auch Ihre Arbeit zur „Esperanto“-Bewegung oder zu den deutschen Reisenden im 18. Jahrhundert eine Eliten-Geschichte oder lassen sich gesamtgesellschaftliche Rückschlüsse aus solchen Studien ziehen?

Sie sprechen drei recht unterschiedliche Themen an, die mich interessieren. Alle sind, auf verschiedene Weise, transnational und grenzübergreifend. Wenn Sie damit das eher Elitäre in der transnationalen Geschichte ansprechen, ist das sicher richtig und ein wichtiger Hinweis. Das Reisen um 1800 und mein Interesse daran, das ist ohne Zweifel eine Eliten-Geschichte. Das liegt in der Natur des Reisens, der mangelnden Infrastruktur vor dem industriellen Reisen. Selbst das passive Reisen über die Lektüre der Berichte bleibt verhältnismäßig elitär. Die Esperanto-Bewegung ist an der Oberfläche und prosopographisch betrachtet um 1900 auch bildungsbürgerlich, elitär. Zumindest was die führenden Personen angeht, die erste Generation. Dann aber nach 1918 gibt es in der Bewegung eine deutliche soziale Erweiterung hin zu Sozialist*innen, Arbeiter*innen, Post- und Bahnangestellten, die es in die Esperanto-Vereine zieht oder die eigene Vereine eröffnen. Aber wenn man Esperanto als eine Chiffre der Zeit um 1900 liest oder als ein Symbol, dann geht es sehr viel tiefer, auch sozial. Es ist eine Zeit von Beschleunigung, Verkürzung von Distanzen, des Warenverkehrs, der Massenmigration. Mitgliedsbeiträge von Esperantovereinen oder der Bezug von Zeitschriften wurden bewusst niedrig gehalten, um sozial inklusiv zu sein. Als ein explizit transnationales Forschungsprojekt ist es schwer, einzelne lokale Biographien jenseits der führenden Akteurezu rekonstruieren. Als Historiker*innen sind wir auf Archive und den „paper trail“ angewiesen, so landet man oft – willentlich oder nicht – doch wieder auf einer eher sozial elitären Ebene. Was die preußische Atlantik-Geschichte betrifft, war da eher der Ansatz, die „Zwischenkriegszeit“ der 1760/70er Jahre als eine Krisenzeit zu beschreiben, getrieben durch klimatische Veränderungen in Europa und jenseits des Atlantiks. Hungerkrisen betreffen jeden, aber vor allem und zuerst die „einfache“ Bevölkerung. Insofern war hier der Versuch, die Teilungen Polen-Litauens nicht ausschließlich von oben als ein politisches Projekt der handelnden Monarchen zu sehen, sondern auch als eine Reaktion auf eine Krise in der Bevölkerung.

Herr Struck, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben!

Ich danke Ihnen. Großartige Fragen und alles Gute für Ihr Projekt.

Das Interview führte Klaas Anders für die Redaktion von Hamburgische Geschichten.