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Tattoo-Kultur: Drei „Stecher“ und das Jahr 1919

Hamburg, der Hafen und Tätowierungen – das gehört zusammen. Drei Männer, die in St. Pauli ihre Tätowierstuben betrieben haben, sind dabei entscheidend für die Hamburger Tattoogeschichte. Karl Rodemich, Christian Warlich und Herbert Hoffmann haben durch ihre Arbeit einen beträchtlichen Beitrag zur Entwicklung und Professionalisierung des Tattoo-Gewerbes in der Hansestadt und darüber hinaus geleistet. Die drei Männer verbindet dabei eine Jahreszahl.

Tattoo- Kultur
Tattoo-Kultur
 

Redaktioneller Hinweis: Dieser Text erschien bereits 2015 bei Hamburgische Geschichten, wurde 2020 allerdings vom Autoren neu bearbeitet.

Die Landungsbrücken am Hamburger Hafen Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein Schiff steuert auf den Kai zu, ist klar zum Anlegen. Die Taue fliegen über die Reling Richtung Land und werden mit den Pollern vertäut. Die Gangway rutscht vom Schiffauf die Uferpromenade und kurz danach machen sich die ersten Decksmänner von Bord. Ihr Ziel beim Landgang: die Hafenkneipen von St. Pauli. Dort treffen sie auf „junge Deern“s und viel Alkohol. Für den einen oder anderen endet der Ausflug im Hinterzimmer einer Kneipe. Nicht mit den „Hafendirnen“, sondern mit einem Tätowierer, einer spitzen Nadel und Farbe. So könnte es sich abgespielt haben zu jener Zeit am Hamburger Hafen. 

„Durch bestimmte Quartiere wie St. Pauli ist die Hamburger Stadtgeschichte sehr eng mit der Hamburger Tattoogeschichte verknüpft“, erzählt Dennis Conrad, Kurator der Ausstellung „Tattoo“, die im Museum für Kunst und Gewerbe (MKG) zu sehen war. Die frühesten Zeugnisse können bis in die 1870er und 1880er zurückdatiert werden. Fotografien aus dieser Zeit verraten dies. Einige davon sind auch in der Ausstellung zu sehen. Dort hängt das vergilbte Abbild eines Seemannes, der den Pariser Eiffelturm auf seinem Rücken trägt. Ein Hinweis, dass dieses Bild – sowie das Tattoo – in der Zeit der Weltausstellung in der französischen Hauptstadt um das Jahr 1898 entstanden sind. 

Karl Rodemich: Bahnbrecher der neuen Tattookunst

Schon damals hatte Hamburg mit Karl Rodemich einen Tätowierer, der das Handwerk der Körperkunst prägte. „Alles noch in inoffiziellem Rahmen. Aber er war ein Bahnbrecher der neuen Tattookunst in St. Pauli“, erzählt Kunsthistoriker Ole Wittmann, der sich intensiv mit der Geschichte und der Bedeutung von Tattoos beschäftigt. Rodemichs Arbeit lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. „Er muss schon in den 1870er-Jahren in Hamburg tätowiert haben“, vermutet Wittmann. Dabei war Rodemichs Talent für diese Zeit fortschrittlich, mit klaren Linien und Bildern. Sein Können muss sich Rodemich bei seiner eigentlichen Arbeit als Porzellanmaler angeeignet haben. Ein solcher Quereinstieg war typisch für diese Zeit. 

Beliebt waren damals kleinere, klassische Seemanns-Tätowierungen wie Anker, Leuchtturm oder Segelschiffe, die Hamburgs erster berühmter Tätowierer seinen Kund*innen stach. „Hauptsächlich waren es maritime Motive, die man mit einer Hafenstadt wie Hamburg verbindet“, erklärt Dennis Conrad. Dazu kamen Motive wie das charakteristische Stadtwappen oder der Schriftzug „Hamburg“. Mancher Seemann ließ sich auch sein Innungszeichen oder das Logo seiner Reederei stechen, um Verbundenheit mit dem Arbeitgeber und Berufsstolz zu zeigen. „Mit der Zeit bildete sich aber auch ein Souvenirwahn heraus. Die Seemänner sammelten sich überall auf der Welt Tattoos zusammen“, sagt Wittmann. So auch in Hamburg. 

Ein Irrglaube sei dabei, dass Tätowierungen nur in den unteren Gesellschaftsschichten getragen wurden. Oft wurde die Körperkunst mit zwielichtigen Gestalten wie Ganov*innen, Zuhältern und Prostituierten in Verbindung gebracht. Doch: „Tattoos gab es in allen Gesellschaftsschichten. Ein großes Thema ist aber die Sichtbarkeit. Es gab Bevölkerungsschichten, wie zum Beispiel die Hafenarbeiter, die in dieser Hinsicht exponierter waren und bei denen die Tätowierungen auch aufgrund ihrer Kleidung sichtbarer waren“, erklärt Wittmann. Dennoch blieb lange eine gewisse Skepsis gegenüber Tätowierten. Auch, weil Tätowierungen „ein Bruch der gewohnten Wahrnehmung waren. Und immer noch sind. Sie sind ein Gegenstück zum unversehrten Körper“, sagt Wittmann. Es hielten sich auch hartnäckig Geschichten, dass den Kunden beim Tätowieren in den Hinterzimmern von den Koberern gerne auch die Taschen geleert wurden.

Das Fenster von Warlichs Kneipe, 1936.
Das Fenster von Warlichs Kneipe, 1936
 

Christian Warlich: Der König der Tätowierer

Erst Christian Warlich war es schließlich, der den Ruf der Tätowierer verbesserte und sich über die Zeit den Spitznamen „König der Tätowierer“ verdiente. Warlich eröffnete im Jahr 1919 – das Jahr, in dem Karl Rodemich verstarb – eine Kneipe in der Kieler Straße 44 (heute Clemens-Schulz-Straße) auf St. Pauli, in der er mit seinen Tätowierungen neben der Wirtschaft eine zweite Dienstleistung anbot. Warlich war jedoch darauf bedacht, sauber, seriös und korrekt zu arbeiten. „Er war der erste in Hamburg, der einen abgetrennten Bereich zum Tätowieren hatte. Im Gegensatz dazu sind Tattoos vorher unter schlechtesten Umständen entstanden“, sagt Ole Wittmann. Warlich war zudem der erste Tätowierer der Hansestadt, der Werbung für sein Geschäft betrieb und mit Plakaten eben diese Seriosität seines Handwerks anpries. 

Warlich entwickelte seine Motive stetig weiter und war später einer der ersten Tätowier*innen in Deutschland, der mit einer elektrischen Maschine arbeitete. Der Legende nach, brachte er diese von einer Fahrt aus den USA mit. Als Seefahrer hatte er zudem viele Teile der Erde gesehen. Ob dies tatsächlich der Fall war oder nur ein Mythos ist, und in welche Regionen der Welt Warlich dabei vorgestoßen ist, untersucht Wittmann in seinem aktuellen Forschungsprojekt „Der Nachlass des Hamburger Tätowierers Christian Warlich (1890–1964)“, das sich mit dem König der Tätowierer beschäftigt. Ein Fokus liegt zudem auf Warlichs Kontakten zu Tätowierer*innen auf der ganzen Welt. Mit diesen tauschte er sich regelmäßig über neue Motive aus und vergrößerte so sein Repertoire. „In welchem Umfang tatsächlich, wird sich in meinem Forschungsprojekt herausstellen. Fakt ist, „Christian Warlich sorgte für eine große Wende. Er sorgte mit seiner Art der Arbeit für eine deutliche Qualitätssteigerung in der Tattooszene“, sagt Wittmann. 

Herbert Hoffmann: Identifikationsfigur der Tattooszene

Mit Herbert Hoffmann ergibt sich schließlich die dritte Verbindung der Hamburger Tattoo-Historie mit dem Jahr 1919. In dem Jahr, als Warlich seine Gastwirtschaft eröffnet hatte und Karl Rodemich verstorben war, wurde Hoffmann geboren. Nicht in Hamburg, sondern in Pommern. Erst nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1949 kam Hoffmann nach etlichen Stationen in Deutschland in die Hansestadt, wo er in Kontakt kam mit Christian Warlich. Der „König der Tätowierer“ fand in Hoffmann seinen Kronprinzen und schickte viele seiner Kund*innen zu seinem designierten Nachfolger. Hoffmann hatte dann Mitte des 20. Jahrhunderts großen Anteil daran, dass Tattoos gesellschaftsfähiger wurden. „Herbert Hoffmann hat viel dazu beigetragen, Tattoos ins positive Bild zu rücken. Einerseits durch seine persönliche Präsenz, aber auch durch seine Fotografien“, sagt Wittmann. Hoffmanns Schrulligkeit und seine Geselligkeit machten ihn zu einem beliebten Menschen, sein künstlerisches Talent und seine Hingabe zum Beruf und dem Handwerk zu einem respektierten. Von frühester Kindheit an war Hoffmann fasziniert von Tattoos und suchte immer das Gespräch, wenn er einen tätowierten Menschen sah. Auch, um diesen abzulichten. Viele seiner Fotos landeten später in verschiedenen Ausstellungen und im Bildband „Bilderbuch-Menschen“. 

Hoffmanns Name steht in enger Verknüpfung zur „Ältesten Tätowierstube Deutschlands“, die er lange führte. Die Tattoostube auf dem Hamburger Berg stieg unter Hoffmanns Leitung schnell zur wichtigsten Adresse des Tätowierhandwerks auf und Hoffmann wurde in dieser Zeit zu einer Legende in der Szene. 

Hamburg als idealer Ort für gesellschaftliche Veränderung 

Hamburg erwies sich in dieser Zeit als prädestinierter Ort, um Tätowierungen tiefer in der Gesellschaft zu verankern. „Das ging einher mit anderen Entwicklungen in den 1960er-Jahren, auch mit dem Aufbegehren der 68er. Es ging weg von Konventionen und weg vom Konservatismus. Hamburg mit dem Hafenmilieu hat schon immer mit Konventionen gebrochen“, erklärt Dennis Conrad. 

Dies setzt sich bis heute fort und zog über die Jahre viele Tattoo-Künstler in die Hansestadt. War Herbert Hoffmann zu Beginn seiner Zeit in der „Ältesten Tätowierstube Deutschlands“ zunächst der einzige Tätowierer in Hamburg, gibt es dort heute knapp 60 Tattoostudios. Berühmtheit erlangte vor allem das Studio Jungbluth in der Sternstraße, das von 2006 bis 2007 den Schauplatz einer Fernseh-Dokusoap bildete. Seit etlichen Jahren genießt auch Chriss Dettmer, der das Studio „The Black Hole Tattoo“ in Altona betreibt, national und international einen hervorragenden Ruf und tritt in die Fußstapfen von Rodemich, Warlich und Hoffmann. 

Mit der Ausstellung „Tattoo“ greift das MKG in Hamburg nun ein populär gewordenes Thema an einem tattoo-historisch wichtigen Standort auf. „Die inhaltliche Verknüpfung der Ausstellung und der Stadt ergibt sich durch die Geschichte. Für den Standort Hamburg ist das ein interessantes Thema“, sagt Conrad. In der Ausstellung geht es um mehr als die Hamburger Tattoo-Geschichte. Besucher*innen erhalten einen Überblick über die Historie der Hautverzierungen, vom späten 19. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart. 

Die Hamburger Tattoo-Geschichte wurde bereits in zwei Ausstellungen aufgearbeitet. Im Jahr 2020 zeigte Ole Wittmann im Museum für Hamburgische Geschichte seine „TATTOO-LEGENDEN – Christian Warlich auf St. Pauli“. Die Ausstellung thematisierte Leben und Werke von Christian Warlich und gab einen Einblick in die damalige Szene. Die Ausstellung kann auch heute noch in einem virtuellen Rundgang erlebt werden, der bei den Annual Multimedia Award 2021 in der Kategorie „Events im Internet“ mit Gold ausgezeichnet worden ist. Bereits 2015 hat das Museum für Kunst und Gewerbe mit der Ausstellung „Tattoo“ dieses populäre Thema aufgegriffen. In der Ausstellung ging es um die Hamburger Tattoo-Geschichte sowie einen Überblick über die Historie der Hautverzierungen vom späten 19. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart.

Ole Wittmann beschäftigt sich seit 2015 mit dem Projekt „Der Nachlass des Hamburger Tätowierers Christian Warlich (1890–1964)“ mit der Karriere und dem Schaffen des Königs der Tätowierer. Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt wurde in Kooperation mit dem Museum für Hamburgische Geschichte/Stiftung Historische Museen Hamburg ermöglicht. Das Museum besitzt ein weltweit bedeutendes Warlich-Konvolut, das die Grundlage für die Ausstellung von Ole Wittmann bildete.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt und zur Ausstellung gibt es unter:

Museum für Hamburgische Geschichte
https://www.nachlasswarlich.de/
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